Eine Meditation der Achtsamkeit
Erinnerungen sind keine bloßen Abbilder der Vergangenheit, kein flüchtiges Selfie in den sozialen Medien, sondern lebendige Spuren, die sich in unser Empfinden einschreiben. Sie sind mitunter an Gerüche gebunden, die – stärker als Bilder oder Worte – die Fähigkeit besitzen, uns unmittelbar in eine Zeit zurückzuversetzen, die längst vergangen scheint. Der Duft von frisch gekochter Erdbeermarmelade trägt nicht nur den Geschmack des Frühsommers in sich, sondern auch die Wärme eines liebevollen Rituals, das Geborgenheit schenkt. In einem einzigen Atemzug verdichtet sich das Gefühl von Kindheit, von Erwartung, von Freude. Ebenso kann der würzig-süße Duft von warmem Apfelkuchen oder Pflaumenmus einen goldenen Herbstmorgen wachrufen – das Rascheln von Blättern, die klare Luft, das Gefühl von Ankommen und innerer Ruhe.
Besonders Gerüche wirken wie unsichtbare Schlüssel zu den verschlossenen Räumen unseres Gedächtnisses. Weihnachtsgewürze – Zimt, Nelken, Vanille – öffnen Jahr für Jahr Türen zu vertrauten Bildern: Plätzchenbacken, Kerzenlicht, das Warten. Hier verbinden sich kollektive Tradition und individuelle Erinnerung. Dass Supermarktregale schon im Spätsommer mit Spekulatius gefüllt sind, verweist auf ein kulturelles Spiel mit Erinnerung – ein ökonomisches wie ein psychologisches Ritual. Der frühe Duft von Weihnachten soll Vorfreude erwecken, doch er entzaubert zugleich – weil er die Magie des unerwarteten Wiedererkennens trennt von dem lebendigen Tun und Erleben im Kontext des vertrauten Rituals.
Erinnerungen wirken am stärksten, wenn sie uns unvorbereitet treffen – ausgelöst von einem Geruch, einem Klang, einer Stimmung. Ihr Zauber liegt gerade darin, dass sie nicht planbar sind, sondern wie Geschenke zu uns kommen. Sie überraschen uns, unverfügbar, ungerufen.
Untrennbar sind unsere Erinnerungen mit Menschen und Tieren verbunden, die unseren Lebensweg begleiteten – manchmal auch mit einem zum Freund gewordenen Baum oder dem Rosenbusch vor dem Fenster. Manche von ihnen sind nicht mehr unter uns. Ihre Abwesenheit kann Trauer hervorrufen, ein Schweigen im Raum, dessen Konturen wir spüren, sobald wir daran denken. Und doch leuchtet in uns etwas, das über das Fehlen hinausweist: die Schönheit dessen, was war – die Begegnungen, die Fürsorge, das Lachen, die Gespräche, die Nähe, das Abenteuer, das gemeinsame Leben.
Doch gleichzeitig leuchtet in uns etwas, das über das Fehlen hinausgeht: die Schönheit dessen, was war – die Begegnungen, die Fürsorge, das Lachen, die Gespräche, die Nähe, das Abenteuer – gemeinsam gelebtes Leben. Es sind diese erfüllenden, vitalen, besonderen Momente, die unser Leben reich und wertvoll gemacht haben, mit Liebe gefüllt haben und ohne sie wäre unser Dasein ärmer, der Horizont weniger weit, die Farben blasser. In dieser Verbindung von Trauer und Freude ist Erinnerung kein Luxus, sondern essenziell – weil wir durch das Erinnern spüren, dass Liebe gewirkt hat, dass Leben gewirkt hat.
In dieser Verbindung von Trauer und Freude ist Erinnerung kein Luxus, kein Polaroid, sondern essenziell. Freude hängt manchmal am Seil des Schmerzes – nicht aus düsterer Lust, sondern weil Erfahrung und Verlust sich verweben. Tagore spricht: „Leuchtende Tage nicht weinen, sondern lächeln, dass sie gewesen.“ In diesem Lächeln liegt das Anerkennen des Vergangenen und zugleich das Bewusstsein, dass Erinnern und Vermissen Bedeutung stiften.
Das Wort erinnern selbst führt ins Innere. Es stammt aus dem Althochdeutschen innaron, verwandt mit inner, dem Inneren. Ursprünglich bedeutete es, etwas zu verinnerlichen, ins Bewusstsein zu holen. Erst später wandelte es sich zur Bedeutung „ins Gedächtnis zurückrufen“. Erinnern heißt also: das Vergangene ins Innere tragen, dort bewahren, lebendig machen.
Doch es bleibt selten beim bloßen Erinnern. Oft stellt sich eine Bewegung der Wiederkehr ein. Erinnerungen kehren zurück, manchmal sanft, manchmal schneidend. In Freuds Duktus unterscheidet sich die bewusste Erinnerung von der Wiederholung: Wir holen nicht nur ins Gedächtnis zurück, sondern wir leben, wiederholen, inszenieren, durchdringen. Wiederholung kann Trost spenden, aber auch gefangen nehmen, wenn sie zur Schleife wird, in der Vergangenes unaufhörlich neu erlebt werden muss.
Hier setzt der Dänische Philosoph Søren Kierkegaard an, indem er Erinnerung von Wiederholung unterscheidet. Erinnerung geht rückwärts: sie hält das Vergangene in feränderter Form fest. Wiederholung dagegen geht nach vorne: sie versucht, das Leben im Vollzug neu zu gewinnen. Damit rückt Wiederholung an die Stelle einer existenziellen Bewegung, die weder bloße Rückkehr noch lineares Fortschreiten ist, sondern eine paradoxe Form von „Erneuerung im Gleichen“.
Das Paradox: Kann es Wiederholung geben? Oder ist jede Wiederholung schon Veränderung? Jede Rückkehr ein neues Geschehen? Kierkegaards Frage bleibt offen, wie eine stille Aufforderung: das Leben nicht nur zu erinnern, sondern im Augenblick selbst wieder und wieder zu bewohnen.
Heute geht es um Erinnerungen.
Erinnerungen sind wie Fäden, die unser Leben durchziehen – manche leuchten hell, andere sind dunkler getönt. Sie halten Vergangenes fest, oft nicht so, wie es wirklich war, sondern in veränderter, gefärbter Gestalt. Im Erinnern liegt Trost und Schmerz zugleich, Verklärung und Verdichtung.